Innovation frisst Hierarchie zum Frühstück
Morgens, halb zehn. Die KiTa ist geschlossen und die Bahn streikt. Macht nichts. Nicole verbringt ihren Innovationstag im Café nebenan und Ahmed ist im Home Office. Was kommt raus? Die beste neue Geschäftsidee. Wie das geht? Mit Eigenverantwortung und Wertschätzung.
Unsicherheit verleitet viele Unternehmen und Führungskräfte dazu, Kontrolle zu verstärken und Flexibilität zurückzufahren. Meine Erfahrung als Gründerin zeigt jedoch das Gegenteil: Nur eine Kultur, die allen Mitarbeitenden Verantwortung, Vertrauen, Wertschätzung und Raum für Innovation gibt, ermöglicht Anpassungsfähigkeit und nachhaltigen Erfolg.
Von Elisabeth Schloten
In vielen Unternehmen beobachte ich derzeit einen deutlichen Rückschritt in der Unternehmenskultur. Homeoffice wird eingeschränkt, Selbstorganisation zurückgenommen, Vielfalt und Teilhabe werden zur Nebensache. In unsicheren Zeiten scheint Kontrolle wieder ein verlockendes Führungsinstrument zu sein. Doch diese Rückkehr zu alten Mustern ist ein Irrweg. Die Welt von heute belohnt nicht die Unternehmen, die am stärksten festhalten, sondern jene, die sich am schnellsten und mutigsten bewegen.
Die Realität ist einfach: Die Veränderungsgeschwindigkeit ist höher als jemals zuvor. Technologie, Märkte, Fachkräftemangel, gesellschaftliche Erwartungen – all das verändert sich gleichzeitig, und eine Verlangsamung ist nicht in Sicht. Kein Management kann in dieser Komplexität alle Antworten kennen. Innovation entsteht schon lange nicht mehr in abgeschotteten Führungsetagen, sondern in den Teams, die nah an Problemen, Kundinnen und Technologien arbeiten. Wer Mitarbeitenden keinen Raum gibt, ihre Ideen einzubringen und Entscheidungen mitzutragen, verliert die wichtigste Ressource, die ein Unternehmen besitzt: kollektive Intelligenz.
Beim Aufbau von KIOTERA habe ich bewusst eine Kultur geschaffen, die diese kollektive Intelligenz entfalten kann: Vertrauen statt Kontrolle, Flexibilität statt Starrheit, Teilhabe statt Abgrenzung, und vor allem Wertschätzung der Menschen als Ganzes, nicht nur als Ressource. Menschen konnten arbeiten, wann und wo es für sie möglich war, im Rahmen rechtlicher und projektbezogener Anforderungen. Entscheidungen wurden dort getroffen, wo die Expertise lag. Und wir setzten radikale Transparenz um: Ziele, Zahlen, Risiken – alles wurde offen geteilt. Diese Kultur war kein Idealismus. Sie war ein strategisches Fundament.
Ihre Kraft zeigte sich besonders in einer frühen Krise. Ein grosser Kunde stellte eine hohe Zahlung ein, weil wir uns über den Projektverlauf nicht einigen konnten. Die Summe brachte uns an den Rand der Insolvenz. Ich legte dem gesamten Team offen, was passiert war, welche Optionen wir hatten und welche Folgen jede davon hätte. Niemand distanzierte sich. Niemand suchte das Weite. Alle Leistungsträger blieben und halfen mit, das Unternehmen zu stabilisieren, selbst als Kurzarbeit für eine kurze Zeit nötig wurde. Eine solche Loyalität lässt sich nicht anordnen. Sie entsteht nur dort, wo Menschen Verantwortung tragen dürfen und sich ernst genommen fühlen.
Doch moderne Kultur zeigt ihre Wirkung nicht nur in Krisen. Sie ist der Motor für Innovation. Ein Beispiel: Eine Mitarbeiterin begann aus eigenem Antrieb zu prüfen, wo Predictive Maintenance, also die vorausschauende Bestimmung von sich entwickelnden Fehlern an Anlagen, ausserhalb der produzierenden Industrie einsetzen liesse. Ohne Auftrag, ohne Prozess, einfach aus Verantwortung heraus. Sie entdeckte Stadtwerke als neue Zielbranche – mit zahlreichen kritischen Pumpen in Wasser-, Abwasser- und Fernwärmenetzen. Daraus entwickelten wir gemeinsam ein neues Geschäftsfeld. Das wäre in einer streng hierarchischen Kultur nicht passiert, denn dort warten Menschen auf Anweisungen. In einer Kultur der Eigenverantwortung suchen sie aktiv nach Lösungen.
Moderne Führung bedeutet nicht, Kontrolle aufzugeben, sondern Wirkung zu erhöhen, indem wir Menschen zutrauen, mitzudenken, mitzuentscheiden und mitzuwirken. Die flexible Arbeitsweise führte bei uns dazu, dass Mitarbeitende ihre Arbeit selbst dann organisieren konnten, wenn beispielsweise die KiTa kurzfristig schloss. Meetings wurden verschoben, Prioritäten angepasst. Es gab keine Ausfälle, sondern Lösungen.
Was ich an der KIOTERA-Kultur am meisten geschätzt habe, war diese sichtbare Entwicklung von Menschen. Wie sie mutiger wurden. Wie sie Verantwortung annahmen. Wie sie einander unterstützten, unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder Lebensentwurf. Eine Unternehmenskultur, die Menschen als ganze Persönlichkeiten anerkennt, schafft nicht nur Bindung, sondern nachhaltige Leistung.
Diese Prinzipien gelten nicht nur für digitale Dienstleistungsunternehmen. Ich erlebe sie heute genauso beim Aufbau von KuroVia, das Anlagen zur CO2-Entnahme im industriellen Umfang projektiert und betreibt. Auch dort zeigt sich, dass Kultur kein weiches Thema ist. Sie bestimmt Geschwindigkeit, Innovationskraft, Krisenresilienz und Wettbewerbsfähigkeit, ebenso wie die Qualität der täglichen Arbeit vor Ort an den Anlagen. Unternehmen, die an hierarchischen Strukturen aus den 1950er-Jahren festhalten, werden in der heutigen Welt nicht Schritt halten können. Mut, Flexibilität und Vertrauen sind keine Zusatzoptionen. Sie sind die Voraussetzung für Erfolg.
Zusammengefasst sehe ich folgende Handlungsempfehlungen:
Menschen ganzheitlich wahrnehmen: Private Realitäten wie geschlossene KiTas, Pflegeaufgaben oder familiäre Krisen berücksichtigen und Strukturen schaffen, die flexible Reaktionen ermöglichen.
Fehler und Erfolge feiern: Offen über eigene Fehler und Erfolge sprechen, und die Mitarbeitenden dazu ermutigen.
Entscheidungen delegieren: Klar beschreiben, welche Entscheidungen Teams selbst treffen. Das erhöht Geschwindigkeit und Verantwortungsübernahme.
Transparenz über Ziele und Prioritäten herstellen: Regelmässig zentrale Zahlen, Ziele, Risiken und Prioritäten allen Mitarbeitenden offenlegen.
Flexibilität als Organisationsprinzip etablieren: Arbeitszeit und -ort so flexibel wie möglich gestalten. Ergebnisqualität und Deadlines klar definieren, den Weg dorthin freilassen.
Materielle und immaterielle Teilhabe ermöglichen: Beteiligungsprogramme und Mitspracherechte schaffen, damit Mitarbeitende wirtschaftlich und inhaltlich Verantwortung übernehmen.
Eigene Innovation systematisch fördern: Mitarbeitenden bewusst Raum für Ideen geben (z. B. 10–20 % ihrer Zeit), damit Innovationen aus der Organisation heraus entstehen können.
Elisabeth Schloten
ist Gründerin von KIOTERA und KuroVia. Zuvor arbeitete sie u.a. als Managerin bei Procter & Gamble, Vodafone und McKinsey. Mit KIOTERA baute sie ein Unternehmen auf, das für seine moderne Unternehmenskultur und datengetriebene Transformation bekannt ist. Heute entwickelt sie mit KuroVia CO₂-negative Energie- und Pflanzenkohlelösungen.


