Materialitätsanalysen gehören zum Handwerkszeug grosser Unternehmen. Studien zeigen jedoch, dass die Ergebnisse durch ihre limitierte Aussagekraft isoliert genutzt werden. Novartis versucht mit neuen Ansätzen, das volle Potenzial der Materialitätsanalyse auszuschöpfen.
von Denise Weger
Der Materialitätsanalyse kommt im Nachhaltigkeitsmanagement und Reporting eine zentrale Rolle zu. Sie ermittelt für Unternehmen und deren Anspruchsgruppen die bedeutendsten (materiellen) Themen. Das Prinzip der Materialität spielt in allen wichtigen Reporting-Standards eine entscheidende Rolle. Unternehmen, die sich mit ihrem Nachhaltigkeitsbericht auf einen Standard beziehen, müssen das Materialitätsprinzip beachten.
Triebfeder für die Analyse für Novartis sind drei übergeordnete Ziele:
der systematische und kritische Dialog mit allen relevanten Stakeholdergruppen,
dadurch die Erhebung von Informationen, die eine Angleichung von Strategien und Geschäftsprozessen an gesellschaftliche Erwartungen erlauben,
die Verbesserung der externen Kommunikation durch Fokussierung auf die wichtigsten Nachhaltigkeitsthemen.
Im Juni 2018, rund zwölf Jahre nach der ersten Veröffentlichung, hat Novartis die Ergebnisse der neusten Analyse publiziert. Viel hat sich in der vergangenen Dekade am Verständnis der Relevanz von Nachhaltigkeitsthemen getan, die nun nicht mehr nur mit Philanthropie in Verbindung gebracht werden. Auch die Materialitätsanalyse ist inzwischen zu einem etablierten Werkzeug geworden; aber meist nur für die Nachhaltigkeitsabteilung.
Dem World Business Council for Sustainable Development zufolge sind die in der Materialitätsanalyse identifizierten Themen nur bei 8 Prozent der Unternehmen im Risikobericht des Geschäftsberichts erwähnt. Bei 35 Prozent der Unternehmen gibt es absolut keine Überschneidung. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass die Materialitätsanalyse bei den meisten Unternehmen nicht ausreichend in die Strategieprozesse einbezogen ist.
Auch bei Novartis war es schwierig, interne Fachabteilungen davon zu überzeugen, die Analyseergebnisse in die Strategiediskussionen einzubeziehen. Insbesondere bei «Emerging Topics» war es schwer, die Geschäftsrelevanz jenseits von Compliance zu aufzuzeigen.
Aus meiner Sicht gibt es verschiedene Gründe für die begrenzte Überzeugungskraft der Materialitätsanalyse. Viele Unternehmen verwenden Ansätze, die zwar schnell zu einer Themenliste führen, aus denen sich aber aus Mangel an qualitativen Daten sonst kaum Erkenntnisse über Trends und Entwicklungen ziehen lassen. Hinzu kommt, dass die Materialität wichtiger Themen abseits der Sprache der Businessabteilungen definiert wird. So werden zum Beispiel die Effekte der Themen auf die Gesellschaft bzw. das Unternehmen selten quantifiziert oder monetisiert, was die Vergleichbarkeit mit «klassischen» Themen erschwert. Zusätzlich werden die Themen in vielen uns bekannten Analysen disparat betrachtet, obwohl es offensichtliche Zusammenhänge gibt und sie nicht getrennt adressiert werden können.
Durch eine systematische Vorgehensweise bei der Identifikation von Themen und der Einbindung von Anspruchsgruppen können aber blinde Flecken im Unternehmen beseitigt werden. Um eine stärkere Einbindung in interne Prozesse zu erreichen, müssen Daten erhoben werden, die für interne Stakeholder relevant sind.
Als wir Ende 2017 den aktuellen Zyklus der Analyse starteten, wollten wir diese Potenziale ausfindig machen und haben unsere Methodik erneut angepasst. Ziel war es, ein übergreifendes Managementtool für alle Fachabteilungen zu schaffen.
Zu den wichtigsten Neuerungen gehörten:
die Angleichung von Teilen der Methodik an den Enterprise-Risk-Management-Prozess über die Befragung von internen Fachexperten;
die erweiterte statistische Auswertung der Daten, um Korrelationen zwischen den Themengebieten zu ermitteln;
die Einbeziehung von Fachabteilungen in eine Szenarienanalyse;
eine breitere Einbeziehung von internen und externen Stakeholdern;
der Versuch, gewisse Aspekte der durch die Materialitätsanalyse identifizierten Themen durch unsere Arbeit im Bereich Impact Valuation monetär auszuweisen.
Zwei Veränderungen seien im Folgenden hervorgehoben:
Die Stärkung des Stakeholderansatzes:
Neben der Erhebung quantitativer Daten haben wir uns 2017 stark darauf fokussiert, qualitative Informationen zu erheben, um damit die quantitativen Ergebnisse in einen Kontext zu setzen. Ziel war es, nicht nur die Frage nach dem «Was», sondern auch die Frage nach dem «Warum» und «Wie» beantworten zu können. Während sich das «Was» mit einem Fragebogen gut ermitteln lässt, sind für das «Warum» und «Wie» Stakeholdergespräche von immenser Bedeutung. Sie boten uns darüber hinaus die Chance, Fachabteilungen in die Gespräche einzubinden und die Tiefe der Gespräche damit weiter zu vergrössern. Positiver Nebeneffekt dieses Ansatzes war, dass Fachabteilungen zum Teil mit Stakeholdern ins Gespräch kamen, die im Tagesgeschäft keine Rolle spielten.
Die Szenarienanalyse:
Um den internen Austausch über die Geschäftsrelevanz neuer Themen anzuregen, organisierten wir Szenarienworkshops. Im Rahmen der üblichen Planungszyklen wurden in Fachabteilungen Themen wie z. B. Menschenrechte als reines Compliance-Thema ohne strategische Relevanz angesehen. Eine Betrachtung ausserhalb des Planungszyklus, zum Beispiel fünf bis zehn Jahre in die Zukunft, ermöglichte andere Sichtweisen. Die dabei entstandenen Diskussionen brachten wichtige Erkenntnisse für alle Beteiligten. Eine Herausforderung liegt nun darin, diese Diskussionen regelmässig zu führen, damit die Schlussfolgerungen auch Eingang in die Strategien der Fachabteilungen finden.
Novartis wird die Gespräche mit den Fachabteilungen in den kommenden Monaten weiterführen; gleichzeitig setzen wir unseren Engagement-Ansatz mit internen und externen Stakeholdern fort.
Ein wichtiger Schritt liegt ausserhalb der Unternehmen auf Seiten der normgebenden Institutionen wie GRI, SASB, Accountability, ISO, IIRC usw. Die Unterschiede zwischen den Wesentlichkeitsdefinitionen – der finanziellen Materialität auf der einen und der Nachhaltigkeitsmaterialität auf der anderen Seite – müssen weiter abgebaut werden. So kann eine vollständige Einbindung der Nachhaltigkeitsthemen in die Unternehmensstrategie erreicht werden.
Denise Weger ist Corporate Responsibility Manager, Strategic Initiatives, bei Novartis in Basel.